Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, Das lange 19. Jahrhundert, Jüdische Religionsgeschichte

Die Wissenschaft des Judentums brachte sich seit den 1820er-Jahren zunächst vor allem im deutschsprachigen Raum in Stellung, wo sie mit autoritativem Anspruch als neues Deutungsmodell jüdischer Religion, Geschichte und Kultur auftrat, die sie mit dem methodischen Rüstzeug der Philologie, Historiografie und Philosophie zu erschließen suchte. Die Genese und Entwicklung einer an akademischen Standards ausgerichteten jüdischen Forschung bezeichnete einen Paradigmenwechsel gegenüber den Auslegungstraditionen der Vormoderne, in denen sich das Judentum als sinnvermittelndes Handlungssystem präsentiert hatte, das auf der Grundlage einer ewig gültigen göttlichen Selbstmitteilung fußte.

Das Projekt setzt an der Beobachtung an, dass sich die jüdische Forschung unbeschadet ihrer betont überlieferungskritischen Ambitionen aber durchaus nicht als „unabhängig von jüdischen Bindungen zu betreibende, säkulare Disziplin“ entwickelte, sondern sich im Laufe des zweiten Jahrhundertdrittels vornehmlich als bekenntnisgebundene Wissenschaft präsentierte, in der das ergebnisoffene Erkenntnisstreben in einem konstanten Spannungsverhältnis zu den systematisch-normativen Ansprüchen der Religionsgemeinschaft verblieb. Insofern die jüdische Religion sowohl den objektiven als auch den subjektiven Referenzrahmen der Wissenschaft des Judentums bezeichnete, beabsichtigte diese keine antiquarische Vermessung der Vergangenheit, sondern definierte sich als interessengeleitete „jüdische Theologie“, als positive Wissenschaft des jüdischen Glaubens in Geschichte und Gegenwart, die an die religiöse Orientierungskrise einer zunehmend mit den Herausforderungen der Moderne konfrontierten Minderheit anknüpfte. Zeugte die jüdische Wissenschaft von der produktiven Teilhabe von Juden an den allgemeinen Wissenschaftsbestrebungen, die sich freilich weitgehend außerhalb der Hochschulen unter staatlicher Aufsicht entfalten musste, so zielte die Wissensproduktion nicht zuletzt auch auf eine defensive Modernisierung jüdischer Religion, die als bürgerliche Konfession ihren Platz in der Gesellschaft einforderte.

PD Dr. Andreas Brämer
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